Zwischen Ketchup, Curry und Kult
Kaum ein anderes Gericht hat die deutsche Esskultur so geprägt wie die Currywurst. Über Jahrzehnte führte sie die Hitlisten der Kantinenküche an – und auch wenn sie heute von Spaghetti Bolognese, Chicken Korma und Bami Goreng überholt wurde, werden in Deutschland noch immer rund 800 Millionen Currywürste pro Jahr verzehrt.

„Kulinarischer Geniestreich“, „Kultessen“, „Kulturgut“, „Legende“ – die liebevollen Titel verraten, dass es sich bei der Currywurst längst nicht mehr nur um eine schnelle Mahlzeit handelt. Für viele ist sie Kindheitserinnerung, Seelentröster und Heimatgefühl in einem. Doch wo liegt die wahre Heimat der Currywurst? Genau darum ranken sich seit Jahrzehnten leidenschaftliche Diskussionen – und mehrere Entstehungsmythen.
Currywurst Mythos Nr. 1: Berlin – Herta Heuwer und das „Chillup-Patent“

Die wohl bekannteste Version führt nach Berlin-Charlottenburg. Dort soll Imbissbetreiberin Herta Heuwer am 4. September 1949 an einem regnerischen Abend experimentiert haben: Aus Ketchup, Worcestersauce und Currypulver mischte sie eine pikante Sauce, die sie über in Scheiben geschnittene Brühwurst gab.
Der Erfolg stellte sich schnell ein. Zehn Jahre später sicherte sich Heuwer beim Deutschen Patent- und Markenamt den Fantasienamen „Chillup“ (eine Mischung aus Chili und Ketchup). Wichtig: Es handelte sich dabei nicht um ein Rezeptpatent, sondern um eine Markeneintragung als „Spezial-Soße“.
Ein echtes Patent hätte die Offenlegung der Rezeptur verlangt – diese hütete die resolute Dame wie ein Staatsgeheimnis und nahm sie 1999 mit ins Grab.
Berlin ehrt Herta Heuwer bis heute mit einer Gedenktafel an der Kantstraße 101. Für viele – und für die Berliner ohnehin – ist sie die „offizielle“ Erfinderin der Currywurst. Kritiker entgegnen: Vielleicht nicht die Erste, aber die Cleverste in der Vermarktung. Für Heuwer selbst war die Sache immer klipp und klar: „Ick hab dat Patent, basta!“

Currywurst Mythos Nr. 2: Hamburg – die literarische Entdeckung
Auch Hamburg erhebt Anspruch: Hier soll Imbissbetreiber Willem „Willi“ Tauber bereits Ende der 1940er Jahre mit gewürzten Tomatensaucen experimentiert haben. Zusätzlichen Rückenwind bekam die Legende aus der Literatur:

1993 veröffentlichte Uwe Timm die Novelle Die Entdeckung der Currywurst. Darin serviert die fiktive Imbissbetreiberin Lena Brücker angeblich schon 1947 auf dem Großneumarkt die erste Currywurst. Obwohl Brücker nie existierte, war die Erzählung so wirkmächtig, dass Hamburg ihr 2003 eine Gedenktafel widmete – als Gegenstück zu Berlins Ehrung für Heuwer.
Timm selbst behauptete, er habe 1947 als Kind schon in Hamburg Currywurst gegessen. Beweise gibt es nicht – doch die Legende hallt nach. 2008 folgte die Buch-Verfilmung mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle. Hamburgs Anspruch ist damit weniger kulinarisch belegt, dafür umso stärker in Literatur und Film verankert.
Currywurst Mythos Nr. 3: Bückeburg – die fürstliche Variante
Eine weniger bekannte, aber charmante Spur führt ins niedersächsische Bückeburg. Schlosskoch Ludwig Dinslage soll 1946 für britische Offiziere improvisiert haben: Ketchup, Curry und – durchaus ungewöhnlich – Aprikosenmarmelade ergaben eine würzig-fruchtige Sauce, serviert über Wurst.
Belege sind rar, doch die Geschichte verleiht dem Mythos eine besondere Note: keine Budenerfindung, sondern eine Kreation aus der fürstlichen Schlossküche – fast märchenhaft, mit süßer Komponente.
Currywurst Mythos Nr. 4: Das Ruhrgebiet – die wahre Wiege der Currywurst

Die überzeugendsten Indizien sprechen für das Ruhrgebiet. Bereits 1936 servierte Peter Hildebrand in Duisburg-Marxloh Bratwürste mit einer Tomaten-Curry-Sauce – und war seiner Zeit damit weit voraus. Das Currypulver bezog er nachweislich von einer Hamburger Gewürzmühle. Als Niederländer im Dritten Reich vom Berufsverbot betroffen, griff er nach dem Krieg seine Kreation erneut auf.
Sein Imbiss existiert noch heute als Peter Pomm’s Pusztetten Stube – bekannt auch für die legendären Pusztetten, kleine Hackbällchen in würziger Tomatensauce nach einer Idee seiner Frau Irmgard. Bis heute prangt dort selbstbewusst über dem Eingang: „Currywurst seit 1936“.
Die Autoren Tim Koch und Gregor Lauenburger zeichneten diese Spur in ihrem Buch Alles Currywurst – oder was? nach. Ihre Recherchen mit Liefernachweisen und Zeitzeugen legen nahe: Die Currywurst war keine Erfindung der Nachkriegsnot, sondern Ergebnis kulinarischer Experimentierfreude mitten im Kohlenrevier.

Duisburg wird neue Currywurst-Hauptstadt
„Die neuen Erkenntnisse haben sogar Folgen für den offiziellen ‚Tag der Currywurst‘. Bislang wurde er am 4. September gefeiert. Künftig soll er jedoch auf den 22. September verlegt werden – den Geburtstag von Johann Peter Hildebrand, besser bekannt als ‚Peter Pomm‘.“
Duisburg plant außerdem eine Gedenktafel vor der Pusztetten-Stube, langfristig sogar ein eigenes Currywurst-Museum. Ein Autobahnschild auf der A40 mit der Aufschrift „Metropole Ruhr – Heimat der Currywurst“ ist ebenfalls im Gespräch. 2026, zum 90. Geburtstag der Currywurst, soll das ganze Ruhrgebiet feiern – mit Budenfesten, Lesungen und Aktionen.

Damit verliert Berlin endgültig die Currywurst-Krone. Jahrzehntelang galt die Geschichte von Herta Heuwer (1949) als unumstößlich. Doch Duisburgs Johann Peter Hildebrand war 13 Jahre früher dran. Selbst der Wikipedia-Eintrag wurde inzwischen angepasst.

Currywurst‑Varianten: Hauptstadt‑Tradition trifft Malochertum
So vielfältig wie die Mythen sind auch die regionalen Traditionen:
- In Ost-Berlin wurde aus Mangel an Naturdärmen eine Tugend: Die Wurst kommt ohne Darm, mit weicher Textur und süßlicher Sauce; darüber – unverzichtbar – eine ordentliche „Prise“ Currypulver. Seit 2020 ist die „Berliner Currywurst ohne Darm“ sogar als geografische Herkunftsangabe geschützt.
- In West-Berlin und Norddeutschland schätzt man den knackigen Biss mit Darm. Paradebeispiel: die VW-Currybockwurst aus Wolfsburg – vom Kantinenprodukt zum millionenfach verkauften Kultartikel.
- Im Ruhrgebiet schwört man auf echte Bratwurst mit Darm mit einer kräftigen, zwiebeligen Curry-Sauce auf Tomatenmarkbasis. Am liebsten pur mit Brötchen oder als „Mantaplatte“ mit Pommes und Mayo. Kein Wunder, dass Herbert Grönemeyer ihr 1982 eine Hymne widmete: „Gehste inne Stadt – wat macht dich da satt? ’Ne Currywurst…“.

Fazit: Ein Stück Heimat im Pappschälchen
Die Currywurst ist weit mehr als ein schneller Snack. Sie ist Erinnerung, Kulturgut und Identifikationssymbol. Sie ist Relikt der „guten alten Zeit“ und zugleich junggebliebener Klassiker. Ob sie als Mahlzeit für Bergleute, Stahlarbeiter oder Berliner Nachtschwärmer begann, spielt (eigentlich) längst keine Rolle mehr: Heute ist sie eine Ikone deutscher Alltagskultur.
Vom Berliner Kiosk bis zur Dortmunder Trinkhalle, ob mit oder ohne Darm, süßlich scharf oder herzhaft – die Currywurst hat Generationen geprägt und Regionen verbunden. Vielleicht liegt genau darin ihr Erfolgsgeheimnis: Sie gehört allen – und ist überall ein Stück Heimat.
Besonders gesund ist sie zwar nicht – doch wen kümmert’s? Am Ende zählt nur eins: Sie schmeckt. Guten Appetit!
Wer jetzt richtig Lust auf eine leckere Currywurst bekommen hat, für den haben wir im zweiten Teil „Currywurst – Mythos made in Germany II“ einige Rezepte vorbereitet!

Literatur- und Quellenverzeichnis:
Literatur:
Koch Tim, Lauenburger, Gregor: Alles Currywurst – oder was? Die ganze Wahrheit über das Kultobjekt, Essen 2024.
Internetquellen:
apetito AG (Hrsg.): Die TOP-Gerichte in Deutschland. apetito Menü-Charts 2024, Stand 14.05.2025, zuletzt abgerufen bei: https://www.apetito.de/presse/menue-charts-2024 (19.08.2025).
Deutsches Patent- und Markenamt: The Spirit of Currywurst, Stand: 10.06.2025, zuletzt abgerufen bei: https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/hintergrund/essentrinken/currywurst/index.html (12.08.2025).
Deutsches Patent- und Markenamt: The Spirit of Currywurst, Stand: 10.06.2025, zuletzt abgerufen bei: https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/hintergrund/essentrinken/currywurst/index.html (12.08.2025).
Morelli, Sofia: Wie entstand die Currywurst? https://www.swr.de/kultur/geschichte/wie-entstand-die-currywurst-106.html (zuletzt abgerufen am 12.08.2025).
NDR: VW knackt 2024 erneut den Currywurst-Verkaufsrekord, Stand: 11.03.2025 16:45 Uhr, zuletzt abgerufen bei: https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/VW-knackt-2024-erneut-den-Currywurst-Verkaufsrekord-Volkswagen,aktuellbraunschweig15076.html (14.08.2025).
Steinkamp, Jörg: Essener Autoren lüften Currywurst-Geheimnis: Der Ruhrpott darf feiern, in: WDR Lokalzeit, Stand 03.09.2024, zuletzt abgerufen bei: https://www1.wdr.de/lokalzeit/heimatliebe/currywurst-jubilaeum-ursprung-ruhrgebiet-duisburg-100.html (12.08.2025).
Bildquellen:
Currywurst mit Pommesgabel aus Holz in der klassischen Pappschale: Foto: Daniel Reiter/Wirestock/AdobeStock
Currywurst/Titel: Foto: GoodRNG/AdobeStock
Gedenktafel für Herta Heuwer: OTFW (Berlin, CC BY-SA 3.0)
Herta Heuwers Chillup, eingetragen als Marke 721319 beim Deutschen Patent- und Markenamt. (Quelle: DPMA)
Peter Pomm`s Pusztetten-Stube: Screenshot Google (14.08.2025)
Zeche Ewald bei Sonnenuntergang mit Sonnenstern: Foto: Lennart/AdobeStock)
(mlz)